Norbert Voll

Instrumental- und Ensemblelehrer
Autor
Hochschullehrer
Bläserdirigent
Solofagottist
 


Der Bachchoral als Grundlage der Klangarbeit im Blasorchester
 
erschienen in Clarino, 3/1996

„ ...Kann man mit einem Blasorchester Bach zum Klingen bringen? Man kann!
Und mehr noch: Man kann auch mit Bach ein Blasorchester zum Klingen bringen! ...“

Hinter diesem Wortspiel verbirgt sich eine interessante Methode der Klangarbeit, die ich hier vorstellen möchte. Es geht dabei um den Bach-Choral als Grundlage der Klangarbeit mit dem Blasorchester.

Das Ziel der Klangarbeit ist es, die Musiker für einen schönen Klang zu sensibilisieren und den Klang aufzubauen. Der schöne Klang ist für die Orchester von grundlegender Bedeutung, er muss der wichtigste Arbeits- und Musizieraspekt sein.

Arbeit am Klang heißt, dass wir an den drei Klangkriterien Tonhöhe, Klangfarbe und Lautstärke arbeiten. Ich selbst setze schon seit vielen Jahren das Kanonspiel zur Klangarbeit ein, so wie ich es in meinem Buch "... bis es immer besser klingt ..." mit der "Erweiterten Einblasmethode für Blasorchester" beschrieben habe. Darüber hinaus verwende ich auch Bach-Choräle.

Warum gerade Bach-Choräle?

Mit den Bach-Chorälen finden Sie rasch und nahezu automatisch zu klanglichen Erfolgen. Die Bach-Choräle sind wie geschaffen für den Klangaufbau in chorisch besetzten Bläsergruppen:

  • Die Choräle werden von den Musikern sehr gerne gespielt, denn jeder Choral ist ein Kunstwerk. Deshalb sind die Musiker leicht für den Klang zu sensibilisieren und die besten Voraussetzungen für die "Tongebung" sind geschaffen.

  • Die Choräle sind kontrapunktisch angelegt, so dass jede einzelne Stimme für sich eine eigenständige melodische Linie zu spielen hat, die die Musiker zur Gestaltung anregt. Keine der vier Stimmen ist auf das Spielen von Akkordtönen beschränkt, jede Stimme ist von gleicher melodischer Gewichtigkeit. Dies ist gerade für Intonationsübungen wichtig.

Beim Blasen der Choräle spielen üblicherweise die technisch flexibleren Musiker im Orchester die ersten Stimmen. Das heißt, sie spielen die hinlänglich bekannten und meist einfachen Hauptstimmen. Dagegen sind die Anforderungen an die zweiten bis vierten Stimmen deutlich höher: Aufwendiger Rhythmus und differenzierte Intonation sind nun auch von den Musikern zu bewältigen, die sich häufig lediglich in den Harmonien der Begleitakkorde wiederfinden. Diese "Umkehrung" in den Anforderungen schult das Orchester.

Die Bach-Choräle sind also nicht nur wunderbare Musik; sie sind ein ebenso wunderbares "Übungsmaterial" für die Klangarbeit. 

Welche Bach-Choräle kommen in Frage?

Bach hat weit über dreihundert vierstimmige Choralgesänge geschrieben. Für Blasorchesterbearbeitungen halte ich die Choräle mit einfacheren rhythmischen Figuren für besonders geeignet. Die von mir für Blasorchester bearbeiteten Bach-Choräle sind Transkriptionen, eingerichtet für komplettes Blasorchester. Meist habe ich die Blasorchester-"Haustonart" Es-Dur oder eine klanglich verwandte Tonart gewählt. Denn es lässt sich am besten am Klang arbeiten, wenn sich die Musiker mit dem Notenmaterial wohlfühlen, das heißt, in einer gut liegenden Tonart.
Bei der Auswahl der Choräle ist es selbstverständlich auch von Bedeutung, wie diese sich in Konzertprogramme einbeziehen lassen. Es unterstützt unsere Probenarbeit, wenn nicht mit völlig abstraktem Material geprobt wird, sondern wenn das, was geprobt wird, auch aufgeführt werden kann. Musiker und Dirigenten macht das Spielen von Chorälen mehr Spaß, als das Absolvieren trockener Tonleiterstudien. 

Wie wird mit den Chorälen geprobt?

Wählen Sie einen angemessenen Zeitraum im Probeneinstieg. Ich habe mit einer Übezeit von etwa 10-15 Minuten sehr gute Erfahrungen gemacht. Üben Sie die Choräle öfters, vermeiden Sie aber zu lange Übeabschnitte!

1. Erstes gemeinsames Durchspielen

Lassen Sie die Musiker den Choral zuerst einmal gemeinsam durchspielen:
Achten Sie auf den exakten rhythmischen Ablauf. Dynamische Basis ist die "Zimmerlautstärke".

Verzichten Sie auf überschwängliches Dirigieren, atmen Sie statt dessen mit den Musikern. Der gemeinsame Atemrhythmus stellt sich mit etwas Übung bereits beim Durchspielen ein. Vermeiden Sie, den Takt zu "schlagen" und lassen Sie das Orchester beim Vor-sich-hinspielen in den eigenen (inneren) Rhythmus finden. Für das Finden der Klangfarbe ist dies von Bedeutung. Achten Sie darauf, dass die Musiker die Töne nicht drücken oder dynamisch forcieren.
Vielleicht ist es schon nach dem ersten gemeinsamen Durchspielen möglich, den Musikern eine vorläufige Kritik zu geben: Was können wir schon jetzt am Klang verbessern? Bedenken Sie dabei: Positive Formulierungen unterstützen den Klangaufbau!
2. Wechselweise unisono- und mehrstimmiges Spiel

Nach dem ersten gemeinsamen Durchspielen des Chorals wird nun abwechselnd ein-, zwei-, drei- oder vierstimmig weitergeprobt. Besonders das Unisono-Spiel der Einzelstimmen ist wichtig. Die von einander getrennten Einzelstimmen sind besonders überschaubar. Hier kann ganz exakt kontrolliert und korrigiert werden. Proben Sie zuerst die Ober- und Unterstimme. Wenn sich diese Stimmen gegenseitig gut tragen, fügen Sie die Mittelstimmen ein. Auch beim mehrstimmigen Spielen steht immer eine der Stimmen im Vordergrund der Probenarbeit. Die anderen Stimmen fungieren währenddessen als Richtschnur.

Proben Sie mit den einzelnen Stimmen immer nur kleine Abschnitte, zum Beispiel viertaktige Phrasen. Arbeiten Sie an diesen Abschnitten elementenhaft und exemplarisch. Gehen Sie in der Reihenfolge Handeln - Fühlen - Denken vor, so erhalten die Musiker über das richtige Körper-Klang-Gefühl Zugang zum schönen Klang. 

Motivieren Sie die Musiker, am Klangaufbau selbstständig mitzuarbeiten, trauen Sie ihnen dies zu und überlassen Sie ihnen Verantwortung. Geben Sie beispielsweise nicht die Richtung an, in der sich die zu korrigierende Tonhöhe verändern soll, sondern fordern Sie die Musiker auf, selbst zu kontrollieren und zu verbessern. Das Heranführen an kritisches Hören lohnt sich früher oder später.

3. Die Anforderungen

Die Anforderungen, die beim Ausarbeiten der Einzelstimmen - also im Unisono - gestellt werden orientieren sich an den drei Kriterien, die den Klangbegriff ausmachen: an der Tonhöhe, an der Klangfarbe und an der Lautstärke.

Tonhöhe

Hier geht es um die Stimmung und um die Intonation.

Jedes Orchester hat eine bestimmte, orchesterspezifische Stimmung. Diese Grundstimmung ist Voraussetzung für die Arbeit an der Intonation. Im Blasorchester wird auf klingen B eingestimmt. Die Stimmung kann selbstverständlich von Zeit zu Zeit mit einem Stimmgerät an einem bestimmten Ton ausgerichtet werden. Ständiges Hantieren mit dem Stimmgerät und Anzeigen, ob Töne höher oder tiefer zu spielen sind, löst die Probleme der Grundstimmung eines Orchester allerdings kaum. Eine solide Grundstimmung wird sich vielmehr nach und nach und durch ständige Beschäftigung mit dem Orchesterklang entwickeln. Die Grundstimmung kann nicht kurzfristig erzwungen werden. Beim Einstimmen (und später beim Intonieren) gilt immer: Den Musikern nicht die Verantwortung abnehmen und Richtungen anzeigen, sondern sie selbst kontrollieren und korrigieren lassen.

Die Bach-Choräle eigenen sich ideal zum Erarbeiten einer sicheren, differenzierten Intonation. Sowohl die melodische (lineare) als auch die akkordische (reine) Intonation, kann anhand der Choräle geübt und in diesen anschaulich umgesetzt werden. Dabei werden alle melodischen Linien plastisch und spannungsgeladen ausmusiziert. Innerhalb des Melodieverlaufes wird dabei auf enge 3./4. und 7./8. Stufen geachtet (leittöniges Intonieren) sowie auf das Verdeutlichen der zusätzlichen leiterfremden Vorzeichen.
Die Akkorde der Haltepunkte hingegen werden rein, das heißt, ihrer Lage in der Naturtonreihe entsprechend, ausgestimmt. Die Terzen werden also tiefer intoniert, das heißt, nicht leittönig, intoniert.
Anders gesagt: Die Melodietöne werden zueinander in spannungsreiche Beziehungen gesetzt, denen die Schlussakkorde der einzelnen Phrasen als rein gestimmte Ruhepunkte gegenüber stehen. Choral einarbeiten, wird deutlich, dass Intonation ein hervorragendes Mittel der Interpretation ist. 

So wird Intonation zu einem wunderbaren Mittel der musikalischen Interpretation.

Der sichere Umgang mit der Stimmung und Intonation erfordert Geduld und einige Übung. Das Spielgefühl und das Gehör stellt sich bei ständiger Beschäftigung mit den Fragen der Tonhöhe jedoch sicher ein.

Klangfarbe

Die Klangfarbe charakterisiert den Klang wesentlich. Wie schon erwähnt setzt sich der Klang aus vielen einzelnen Obertönen zusammen; Menge und Zusammensetzung dieser Mischung bestimmt die Klangfarbe. Obertonarme Klänge (Töne) klingen eher dumpf und "tragen" nicht. 

Wie erhalten Sie tragfähige Töne?
  • Achten Sie darauf, dass sich die Musiker beim Spielen locker und unverkrampft halten und dass sie die Spielbewegung nicht unterdrücken.
  • Nehmen Sie aus dem Orchester die Anspannungen heraus.
  • Die Mundstücke dürfen nicht angepresst oder festgebissen werden. Druckarmes, gelöstes Spielen sorgt für gelöste, freiklingend Töne. 
  • Lassen Sie die Musiker weich, aber transparent und leicht artikulieren. Alle Töne, bis hin zu den Sechzehntelnoten, werden eher breit gespielt. 
  • Für hohe Töne gilt: Rufen statt Schreien! 
  • Tiefe Töne dürfen nicht forciert werden. Im Piano hingegen soll die leise Dynamik nicht durch Unterdrücken des Klanges erreicht werden. 
  • Bleiben Sie konsequent beim Befreien der Töne, lassen Sie immer klangvolle Töne spiele. Der Körper lernt das Klanggefühl aller gespielten Töne, der guten und der schlechten...
Außerdem: Die erwünschte Klangfarbe kommt nur bei rhythmisch exaktem Spiel zustande. Alle "verwackelten" Einsätze sind nicht nur rhythmisch ungenau, sie führen auch durch die verschobenen Einschwingvorgänge der einzelnen Instrumente zu einem verzerrten Klang. Die Aufgabe der Dirigenten besteht darin, die Einsätze und Impulse zwar differenziert und äußerst präzise zu geben, deren Härte jedoch gleichzeitig weich abzufangen.

Lautstärke

Die Dynamik wird im Klang gestaltet, das heißt auf der Basis gelungener Klangfarbe und sauberer Stimmung und Intonation. Sobald die Musiker hierzu in Zimmerlautstärke gefunden haben, können ganz nach Bedarf Änderungen vorgenommen werden. Erst wenn im Orchester in einem "bequemen" dynamischen Bereich sauber intoniert und mit frei klingenden Tönen gespielt wird, kann das dynamische Spektrum ausgeweitet werden.

Das dynamische Ausbalancieren der Bach-Choräle ist schnell erreicht. Gute Klangbalance entsteht dann, wenn wir die erste Stimme im Vergleich zu den drei anderen in ihrer Lautstärke etwas zurücknehmen. Alle wichtigen harmonischen Wendungen, die sich aus dem Verlauf der einzelnen Stimmen ergeben, sollten dynamisch leicht heraus gehoben werden. Übergangsdynamik war im Barock nicht üblich!

Im Rahmen der Klangarbeit sind neben Tonhöhe, Klangfarbe und Tonstärke auch Faktoren wie Atmung, Ansatz und Haltung zu beachten. Diese Themen sollten daher im Ausbildungsprogramm der Blasorchester genügend vorbereitet werden.

4. Musikalischer Stil der Bach-Choräle

Alle Noten, auch die Sechzehntel, werden im barocken Stil weich und breit gespielt. Hier lässt sich der Begriff "detaché", den die Streicher für liegenden Bogen verwenden, direkt übertragen: Die Töne werden weich und klangvoll direkt aneinander gereiht.
 

  • Dissonante Klänge, z. B. Vorhalte, Durchgänge usw. werden bewusst ausmusiziert (ohne dabei zu übertreiben).
  • Die Tempi sind durchweg fließend. Der Rhythmus kann "swingen", Dabei sollte das Linienspiel nicht verloren gehen.
  • Gewichten Sie metrisch leicht synkopisch: Die unbetonten Zählzeiten (Schlag 2 und 4 im 4er Takt) erhalten etwas mehr Gewicht. Auch hier in der Linie bleiben und nicht übertreiben.
     
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