Norbert Voll

Instrumental- und Ensemblelehrer
Autor
Hochschullehrer
Bläserdirigent
Solofagottist
 


Klassik - die hohe Schule des Blasorchesters
 
erschienen in Clarino, 8/1996

Ein bedeutender Aspekt der musikalischen Fortentwicklung ist neben der Arbeit am Klang die Arbeit an den musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten. Ihr sollte in den Proben der Blasorchester immer genügend Platz eingeräumt werden. Gemeint ist die bewusste und gekonnte Gestaltung der Musik. Wenn wir mit dem Orchester eine differenzierte Metrik, bewusste Artikulation und atmende Phrasierung erarbeiten, steht uns eine große Palette musikalischer Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung. Die Musik wird plastisch und erhält ihren speziellen Charakter. Für Amateure wie für Berufsmusiker gilt:

Die Klassik ist die hohe Schule der musikalischen Bildung - Wer Klassik spielen kann, kann alles spielen ...
Die klassische Bläserliteratur bietet hervorragende Möglichkeiten, uns mit den Aspekten des musikalischen Ausdrucks vertraut zu machen. Hier kann das Leggiero-Spiel geübt werden, feine Differenzierungen der Metrik, Artikulation und Phrasierung können erarbeitet werden und wir könen den Versuch unternehmen, die Spielweise der Streicher - in klassischer Manier - nachzuempfinden. 
Weshalb gerade die klassische Musik für die musikalische Fortentwicklung so geeignet ist, möchte ich näher ausführen.
  Die Hintergründe

In der Klassik, das heißt im achtzehnten Jahrhundert, wurden die Blasinstrumente in großen Schritten weiterentwickelt und in ihrer Konstruktion verändert und verbessert. Gleichzeitig setzten Komponisten einige der Instrumente überhaupt erstmalig in ihren Partituren ein. So nutzte beispielsweise Johann Christian Bach, der jüngste der Bach-Söhne, in seinen Bläsersinfonien erstmals die Klarinette in allen ihren Registern mit deren unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeiten.

Die Streicher waren musikalisches Vorbild für die Bläser. Ihre klangliche Beweglichkeit und ihr modulationsfähiges Spiel, ihre Artikulationsmöglichkeiten mit dem Bogen (portato, staccato, spiccato, pizzicato usw.) versuchten die Bläser nachzuahmen und in ihrem Können zu erreichen. Dies erforderte viel Übung. Im übrigen waren die Streicher im Vergleich zu den Bläsern "hoffähig". Die Bläser hingegen "producirten unterm fenster oder im Garten" (Wiener Almanach). So gesehen waren die Streicher auch in der gesellschaftlichen Hierarchie das Vorbild der Bläser.

Vergessen wir nicht die herausragende Wichtigkeit der Bläsermusiken in der Klassik: 
Sie waren das einzige "Vehikel" zur Verbreitung musikalischer Neuheiten. Große Orchester musizierten ausschließlich bei Hofe, das Volk hatte als Publikum keinen Zutritt zu diesen Aufführungen. Viele Komponisten fertigten von ihren Werken Harmoniemusiken an, die dann auf der Gasse erklingen konnten; und es wurde auch ganz speziell für die Bläserensembles komponiert und mit deren musikalischen Möglichkeiten experimentiert. Es entstanden in großer Zahl die - heute wiederentdeckten - Bläserdivertimenti der Klassik, die zu ihrer Zeit sehr populär waren.
 

Die Bläserdivertimenti wurden häufig chorisch besetzt, das heißt, es musizierten regelrecht kleine Blaskapellen. Hierfür gibt es zahlreiche Belege. Vor allem die Oberstimmen waren verstärkt. Bei Haydn-Parthien wurden bis fünf originale erste Stimmen vorgefunden. Die Bass-Stimme wurde mit einem Kontrabass verstärkt, der mit seinen Pizzikato- und Arco-Klängen eine interessante Klangfarbe in das Ensemble brachte und den Klang tragfähiger machte.

Die bläserischen Spielfertigkeiten wurden in den klassischen Bläserensembles weiterentwickelt und kultiviert. Heute können wir mit dem Spielen klassischer Bläserliteratur unsere musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten vertiefen und uns Fertigkeiten aneignen, die sich auf alle bläserischen und musikalischen Bereiche positiv auswirken.

 Die klassische Bläsermusik im Blasorchester heute

Viele Blasorchester weichen der Klassik aus oder sie wählen Stücke bzw. Bearbeitungen, die ungeeignet sind. Dies ist nicht verwunderlich. Denn erst seit etwa 1960 begannen Berufs-
Bläserensembles, sich mit klassischer Original-Bläsermusik zu befassen. Wunderbare Manuskripte wurden wiederentdeckt.

Klassik-Bearbeitungen für Blasorchester gab es zum größten Teil nur von für Bearbeitungen ungeeigneten Streicherkompositionen. Blasorchesterbearbeitungen eines Streichquartetts sind zwar absurd, aber es gibt sie.

Eine banale, aber zutreffende Feststellung: 

Wer Klassik spielen kann, kann alles spielen.

Um Klassik spielen zu können, muss man allerdings geeignete Literatur auswählen. Die Spielweise der Streicher kann und soll nachempfunden werden, nicht jedoch sollte reine Streicherliteratur gespielt werden. Die Bläserdivertimenti der Klassik sind bereits vom Komponisten bläsergerecht angelegt. 

Dies kommt auch heute noch zum Tragen, und sowohl die Musiker als auch die Zuhörer haben ihre Freude an dieser klassischen Musik. Nicht nur meine eigenen Erfahrungen bestätigen dies.

Wenn wir klassische Bläsermusik spielen und mit ihr umzugehen lernen, werden wir den richtigen Stand für die Klassik in der Blasmusik finden. Allmählich werden wir uns hohe musikalische Maßstäbe erarbeiten und unsere Blasorchester entscheidend weiterentwickeln. Wir werden die Klassik als die hohe Schule des Blasorchesters begreifen.

Beispiele

Die Frage, "wie nun klassisch gespielt wird", lässt sich hier nicht ausführlich behandeln, denn dies ist ein unerschöpfliches Thema. Ich will jedoch versuchen, eine sinnvolle "Starthilfe" zu geben und möchte kurz erläutern, was beim Einstudieren klassischer Bläsermusik beachtet werden sollte:

Das Hauptaugenmerk soll auf dem Erarbeiten des Leggiero-Charakters liegen. "Leggiero" heißt leicht, anmutig, spielerisch, tänzerisch (Ullstein Musiklexikon). Wer mit den Begriffen der Streicher vertraut ist, kann bzw. sollte in den Proben mit entsprechenden Assoziationen arbeiten.

     
      Metrik

  • Der Schwerpunkt liegt auf der ersten Zählzeit des Taktes. Aber nur so stark gewichten, als würde der Bogen neu angesetzt.
  • Kein Gewicht (Bogen/Blasdruck) auf einzelnen Zählzeiten.
  • Leichtes Spiel (Leggiero).

     
      Artikulation

  • Unbetonte Zählzeiten und Auftakte leicht oder gar nebensächlich, quasi mit klingendem Spiccato zu nehmen. Ein vorgegebenes Staccato kann das symbolisieren.

  • Das Staccato kurz und dennoch klangvoll ausführen.

  • Eingetragene Staccatobezeichnungen weisen einen Part hin und wieder auch als Pizzikato-Part aus: Zupfen.

  • Die Metrik darf hierbei nicht abflachen.

      Phrasierung

  • Trotz deutlicher Artikulation alles "unter einem Bogen" (Bläser: Atembogen) spielen.
  • Die einzelnen Phrasen müssen durch pointiertes Atmen zueinander in Spannung gesetzt werden.
  • Abstrich und Aufstrich nachempfinden.
  • Zielpunkte setzen (auf welchen Ton zielt die jeweilige Phrase?).
  • Freudig offensiv, mit flottem ("klassisch-italienischem") Tempo musizieren. Gegenseitige Ablösungen der Stimmen sollen nicht bemerkbar werden, die Stimmen sollen so phrasiert werden, dass sie sich gegenseitig ablösen.

Aussichten

Um bläserisch ein Pizzicato, einen Abstrich oder das Spiel auf einem Bogen nachempfinden zu können, sollten wir immer wieder mit den Bildern aus der Spieltechnik der Streicher arbeiten. Im Laufe der Zeit wird die Umsetzung gelingen. In den Stoffplänen des Unterrichtsfaches Blasorchesterleitung kommt die Klassik nach wie vor zu kurz. Hier müssen noch Lücken geschlossen werden. Daher sollten die Dirigenten der Blasorchester oft klassische Musik hören, damit sie mit ihr sicher umgehen können. Oder besser noch - sollten sie als Instrumentalisten selbst klassisch musizieren.

 


 zurück